Praktisch war er für alles zuständig. Für
die Dorfbevölkerung gab es in ihm einen Mann, an den
man sich in allen Angelegenheiten halten konnte. Entsprechend
der indischen Bezeichnung 'gram sewak' (= Diener des Dorfes)
war er kein Beamter mit Hoheitsrechten. Er mußte vielmehr
das Vertrauen der Dorfbevölkerung gewinnen und konnte
nur durch Überzeugung erfolgreich arbeiten. In Gestalt
des Village Level Workers kam die Administration i n direkten
Kontakt mit der Bevölkerung und erhielt Kenntnisse
über Gegebenheiten und Bedürfnisse auf Dorfebene.
b) Angesichts der Tatsache, daß die aus der Kolonialzeit
weiterbestehende unterste Verwaltungseinheit, der Distrikt,
mit ca. 1 Million Einwohnern und 3000 Dörfern zu groß
ist, um einen ausreichenden Kontakt der Verwaltungsdienste
mit der Bevölkerung zu ermöglichen, wurde eine
völlig neue administrative Ein heit geschaffen, der
Development Block. Er umfaßt im Mittel
100 Dörfer mit etwa 60000 bis 70000 Menschen. Leiter
der Verwaltung ist der Block Deveopment Officer, welcher
über Hoheitsrechte verfügt und für die Planung
und Finanzierung aller Aktivitäten in seinem Bezirk
zuständig ist. Ihm steht ein Stab von Spezialisten
für die verschiedenen Fachressorts zur Seite. Seine
Stellung als direkter Vorgesetzter der Fachbeamten sollte
die bisherige Ressorttrennung beseitigen. Außerdem
ist der Block Development Officer Vorgesetzter der Village
Level Worker.
c) Im Laufe der Zeit wurden Selbstverwaltungskörperschaften
auf Gemeindeebene geschaffen, denen die Aufgabe der Projektplanung
und — nach Genehmigung durch höhere Instanzen
— deren Ausführung und Überwachung zukam.
Ähnliche Organe der Willensbildung wurden auf höherer
Ebene eingeführt. Die Verwaltung auf höherer Ebene
geschah durch einen Sonderbeauftragten des Leiters der Distriktverwaltung,
sowie durch spezielle Community-Development-Ministerien
auf Staats- und Unionsebene.
In Indien wurde Community Development von Anfang an als
Instrument zur Erreichung der Ziele der Fünfjahrespläne
konzipiert, wodurch nicht nur seine schnelle Expansion über
das ganze Land möglich wurde, sondern auch eine Kongruenz
der Ziele sichergestellt war.
Vernachlässigt man Details über Organisation,
Maßnahmen und Methoden des indischen Community Development-Ansatzes
(siehe hierzu JOERGES, B. et al., 1969; MERTIN, J., 1962)
und fragt nach den Erfolgen der gewaltigen Anstrengungen
zwischen 1950 und 1965, dann ergibt sich ein mageres Ergebnis:
Die Mehrheit der Autoren stimmt darin überein, daß
Community Development wenig dazu beigetragen hat, die Lebenslage
der Landbevölkerung zu verbessern. Partielle Erfolge
etwa bei der Einführung von Handelsdüngern und
neuen Sorten waren zwar zu verzeichnen, erwiesen sich jedoch
als nicht durchschlagend. Auch das Ziel, sozialen Wandel
herbeizuführen, wurde nicht erreicht. Eine allgemeine
Mobilisierung der Landbevölkerung kam nicht zustande.
Auch hier gab es partielle Erfolge, etwa im Schul- und Gesundheitswesen,
aber qualitative Probleme sowie Schwierigkeiten bei der
Unterhaltung der geschaffenen Einrichtungen verhinderten
oft nachhaltige Wirkungen. Zumindest vordergründig
scheint also auch hier wenig erreicht worden zu sein. Allerdings
muß zu einem vorsichtigen Urteil geraten werden. Sozialer
Wandel ist schwierig zu messen, und die Auswirkungen sind
eventuell zu langfristig, als daß sie bei einer frühen
Evaluierung schon zu erkennen wären. Vielleicht hat
manche Unruhe von heute ihre Wurzeln in den z. T. 20 Jahre
zurückliegenden Aktivitäten des Community Development.
Insgesamt muß festgestellt werden, daß die mit
großen „human investments" und hohen Kapitalausgaben
erzielten Ergebnisse in keiner Weise den Erwartungen entsprochen
haben.
Eine Analyse der Ursachen für diese begrenzten Erfolge
läßt fünf Hauptbereiche erkennen:
a) Der Grundansatz weist Mängel auf
Die Idee einer in Selbsthilfe zur Besserung ihrer Situation
freiwillig zusammenarbeitenden Dorfgemeinschaft setzt voraus,
daß das Dorf und seine Einwohner eine relevante soziale
Einheit bilden. In Wirklichkeit sind indische Dörfer
nur begrenzt soziale Einheiten. Unterschiedliche Interessenlagen
einzelner sozialer Schichten und die Abgrenzung zwischen
verschiedenen Kasten bewirken Differenzierungen, die oft
stärker sind als die räumliche Integration in
Form des gemeinsamen Wohnortes. Aus diesem Grunde war es
schwierig, Projekte zu finden, die für alle Gruppen
interessant sind. Beispielsweise ist der Bau einer Zufahrtsstraße
nur für den interessant, der etwas zu transportieren
hat, also für die Landbewirtschafter, nicht aber für
die Arbeiter. Selbst Trinkwasserbrunnen sind nur von Gruppeninteresse,
wenn religiöse Gebräuche verhindern, daß
sie von allen benutzt werden können. Solange die Grundbesitzer
ihren Landarbeitern verbieten, Kinder in die Schule zu schicken,
um sich so billige Arbeitskräfte für die Zukunft
zu sichern, dient nicht einmal die Eröffnung einer
Schule den Interessen aller. Als schließlich unter
dem Eindruck der Ernährungsschwierigkeiten im Laufe
der Zeit die Community-Development-Aktivitäten sich
immer mehr auf die Förderung der Landwirtschaft konzentrierten,
bedeutete dies eine Förderung der Landbewirtschafter,
also der dörflichen Oberschicht. Als Folge davon waren
die Landlosen noch weniger zur Mitarbeit bereit.
Der Grundansatz erfordert Gemeinsinn, der kaum Voraussetzung,
sondern höchstens Ergebnis eines sozialen Wandels sein
kann. Im Gegensatz zum Dorfzentrismus des Community Development
versprachen sich die unteren Schichten eine Besserung ihrer
Lage am ehesten durch Herauslösen aus der Dorfbezo-genheit,
also durch horizontale Mobilität. Sie wanderten in
großem Ausmaß in die Städte ab. Tatsächlich
verhinderte die bestehende Sozialstruktur in den Dörfern
jede vertikale Mobilität.
Probleme ergaben sich auch durch die Art der Auswahl von
Block-Hauptorten. Während zu den Distriktsitzen alte
wirtschaftliche, soziale und psychologische Beziehungen
bestanden, waren die neuen Blockzentren oft keine zentralen
Orte, störten sogar die bestehenden Zentrum-Hinterland-Beziehungen.
b) Die personellen Voraussetzungen waren ungenügend
Es zeigte sich, daß der Hauptförderungsagent,
der Village Level Worker, über zu wenig Ausbildung
verfügte. Sein geringes Gehalt bewirkte niederen Status.
Nicht selten gehörte er einer Kaste an, die niederer
war als die der Bauern, so daß er schon deshalb nicht
akzeptiert wurde. Sein Bestreben, für sein Dorf etwas
zu tun und dadurch Anerkennung zu finden, bewirkte, daß
er sich immer mehr auf die Vermittlungs- und Beschaffungsfunktion
verlegte und seine Hauptaufgaben vernachlässigte.
Auch die Block Development Officers entsprachen vielfach
nicht den Erwartungen. Anstatt „Unternehmer in Entwicklung"
zu sein, verstanden sich viele als Verwalter des Entwicklungsbudgets.
Der große Unterschied in Einkommen und Status zwischen
Village Level Worker und Block Development Officer machte
die Kooperation schwierig. Zwar könnten theoretisch
alle diese Personalmängel durch Ausbildung beseitigt
werden, aber die praktische Durchführung wäre
doch sehr schwierig. Die Zahl von 5 000 Development Blocks
und 600 000 Dörfern in Indien weist auf das Ausmaß
der zu bewältigenden Ausbildungsarbeit hin. Von nachteiliger
Wirkung war er auch, daß die Spezialisten im Stab
des Block Development Officer von ihren Fachministerien
abgeordnete Beamte waren. Da solche Abordnungen von begrenzter
Dauer waren, verhielten sie sich in kritischen Fällen
loyal zu den Fachministerien und nicht zur Community-Development-Administration.
c) Sozialer Wandel hat politische Voraussetzungen
Neues wirtschaftliches, soziales und politisches Verhalten
muß effektiv möglich sein. Dies war aber nicht
oder nur in unvollkommenem Maße der Fall. Die Grundbesitzprobleme
wurden vom Community-Development-Approach ignoriert. Feudale
Herrschaftsformen bestanden weiter und die Neuordnung der
politischen Willensbildung setzte erst in den späten
Jahren des Community Development ein. Wegen der bestehenden
wirtschaftlichen und sozialen Abhängigkeit waren neue
Verhaltensweisen für Teile der Bevölkerung gar
nicht möglich.
d) Die Konzeption als Mehrzweckprogramm erwies
sich als problematisch
Der integrale Charakter des Community-Development-Ansatzes
zur Förderung der landwirtschaftlichen Entwicklung
— theoretisch einer der wichtigsten Vorzüge —
erwies sich im Laufe der Zeit als Schwäche. Die dünnste
Stelle im System war offensichtlich der Village Level Worker.
Er war für alles zuständig, und dies ging über
seine Fähigkeiten und Kräfte. Seine Reaktion war,
sich primär auf solche Aktivitäten zu stürzen,
die ihm am leichtesten fielen und den schnellsten Erfolg
brachten (ALBRECHT, H., 1969, S. 31). Er wurde immer mehr
zu einem Agenten, der für das Dorf Beihilfe von außen
zu erhalten suchte. Die Betonung verschob sich mehr und
mehr auf die ökonomischen Ziele unter Vernachlässigung
des sozialen Wandels. Auf ökonomische Ziele hin orientierte
Projekte bringen relativ schnell Ergebnisse, sind leicht
vorzuzeigen und bringen Lob von Vorgesetzten, sowie Anerkennung
bei der Dorfbevölkerung. Besonders Bauprojekte wurden
damals als eine Art 'Geltungskonsum' bei der Bevölkerung
immer beliebter und standen auch bei der Administration
in hohem Ansehen. Sie lassen sich leicht quantitativ erfassen
und in Erfolgsberichten aufführen. Bei Einweihungsfeiern
kommen viele hohe Beamte zusammen, was dem Ansehen des Dorfes
wie der Administration förderlich ist. Mit Aktivitäten,
die auf sozialen Wandel zielen, ist dergleichen nicht zu
erreichen.
e) Das Konzept ist ökonomisch nicht konsequent
durchdacht
Der Selbsthilfegedanke wurde teilweise übertrieben.
In manchen Fällen wäre durch einen gewissen Mehraufwand
ein größerer und nachhaltiger Erfolg zu verzeichnen
gewesen. Dies gilt besonders für die vielen Straßen,
deren Befestigung oft so unzureichend war, daß sie
den nächsten Monsunregen nicht überstanden. Mittel
für Instandhaltung waren kaum verfügbar. Manche
wenig produktiven Formen der Kleinindustrie wurden gefördert,
waren aber nur durch ständige Subventionen am Leben
zu erhalten. Schließlich wurden die Community-Development-Ausgaben
nicht mit alternativen Verwendungsmöglichkeiten verglichen.
Meist wurden Dinge geschaffen, die volkswirtschaftlich erst
langsam ausreifen, teils das wirtschaftliche Wachstum gar
nicht förderten. Zum Teil liegt dies in der Natur eines
auch auf sozialen Wandel zielenden Programms. Hier war es
aber weniger geplant als vielmehr der zufälligen Entscheidung
des einzelnen Beamten überlassen, welcher Prozentsatz
der Gesamtaufwendungen auf die einzelnen Teilziele verteilt
wurde.