Landwirtschaft
'Landwirtschaft' ist Bodenbewirtschaftung mit dem Ziel der
Produktion von Gütern, die für den Menschen von
Nutzen sind, insbesondere Nahrung und Rohstoffe.
Diese Produktion findet in technisch-organisatorischen Einheiten
statt, die wir landwirtschaftliche Betriebe nennen. In der
Welt finden wir sehr unterschiedliche Formen von diesen landwirtschaftlichen
Betrieben, aber am verbreitesten und uns meist vor Augen stehend,
wenn von Landwirtschaft die Rede ist, ist doch der landwirtschaftliche
Familienbetrieb.
Dieser ist normalerweise dadurch gekennzeichnet, daß
die Familienangehörigen ihre Arbeitskraft auf ihm einsetzen,
andererseits die Familie von den Erträgen ihres Betriebes
lebt.
Der Familienbetrieb hat sich als sehr anpassungsfähig
an die Änderungen der Relation von Land zu Arbeit erwiesen.
Zu- und Verpachtung, Vergrößerung und Verkleinerung
des Viehbestandes, Intensivierung oder Extensivierung der
Landnutzung sind Beispiele für Anpassungsreaktionen.
In zunehmendem Maße stimmt die Charakterisierung des
landwirtschaftlichen Betriebes - und damit unsere Vorstellung
von Landwirtschaft - als Einheit, auf der die Bewirtschafterfamilie
ihre Arbeitskraft einsetzt und von dessen Erträgen sie
lebt, nicht mehr. Regional kann dies in sehr unterschiedlichen
Formen und unterschiedlichem Ausmaß der Fall sein. Einige
Beispiele aus der Türkei für die vielfältigen
heutigen Formen, die von der allgemeinen Vorstellung von Landwirtschaft
abweichen, sollen dies verdeutlichen:
1. In der Gegend von Rize finden sich viele Dörfer,
in denen ein
Teil der Häuser verschlossen sind, weil die Familien
in den großen Städten leben. Sie haben ihre Teegärten
jedoch beibehalten und kommen zum Teepflücken ins Dorf
zurück.
2. Im Raum Sivas - und vielen anderen Gegenden der Türkei
- sind
junge Leute in großer Zahl nach Europa gezogen, um dort
Arbeit aufzunehmen. Sie überlassen die Bewirtschaftung
des kleinen ertragsarmen Betriebes ihren älteren Familienangehörigen,
teilweise auch ihren Frauen.
3. Aus vielen Dörfern Südostanatoliens ziehen jedes
Jahr die
jungen arbeitsfähigen Menschen für 8 - 12 Wochen
zum
Baumwollpflücken in die Gebiete um Adana, um mit diesem
Verdienst ihr Einkommen zu bessern.
4. Wenn in erreichbarer Nähe Fabriken entstehen, versuchen
junge
Leute dort Arbeit zu erhalten, um so die Existenz der Familie
auf eine breitere Basis zu stellen.
5. Junge Leute wandern aus Dörfern mit armen Böden
ab, und nur die
alten Leute bleiben zurück.
Diese Beispiele lassen sich vermehren. An den Küsten
bietet der Fremdenverkehr Arbeitschancen; in entlegenen Gebieten
bringt Teppichknüpfen ein zusätzliches Einkommen;
manch Taxifahrer stammt aus einem landwirtschaftlichen Betrieb;
man arbeitet im Wald, beim Straßenbau oder verpflichtet
sich bei der Armee.
In all diesen Fällen stimmt die Vorstellung vom Betrieb,
auf dem die Bewirtschafterfamilie ihre Arbeitskraft einsetzt
und von dessen Erträgen sie lebt, als Prototyp für
Landwirtschaft nicht. Vielmehr arbeiten die Familienangehörigen
auf verschiedenen für sie erreichbaren Arbeitsplätzen,
wo immer sie den höchsten Nutzen erwarten, und leben
von der Gesamtheit der landwirtschaftlichen und nichtlandwirtschaftlichen
Einkünfte.
Von Familie zu Familie - je nach Alter -, von Ort zu Ort,
von
Betrieb zu Betrieb - je nach Größe -, von Zeit
zu Zeit mag die
Zusammensetzung der Einkünfte sehr unterschiedlich sein.
Je
kleiner der landwirtschaftliche Betrieb, desto größer
ist
tendenziell die Rolle außerlandwirtschaftlicher Einkünfte.
Es scheint, als ob die landwirtschaftliche Betriebslehre
hier einen Irrweg gegangen ist, zumindest ihre Ergebnisse
unzulässig verallgemeinert wurden. Entwickelt wurde die
Betriebslehre in den USA und in Nordwesteuropa, also in Gebieten
mit relativ großen landwirtschaftlichen Betrieben. Tatsächlich
sind die größeren Betriebe ja eine technisch-wirtschaftliche
Einheit, bei der sozialökonomische Komponenten vernachlässigt
werden können.
Bei der großen Zahl der kleinen Betriebe Südeuropas
und der meisten Entwicklungsländer ist die Situation
ganz anders. Im Mittelpunkt steht hier der Haushalt, und die
Haushaltsmitglieder trachten durch optimalen Einsatz ihrer
verfügbaren Ressorcen ihr Überleben zu sichern und
ihre Existenz zu bessern. Dies kann auf verschiedene Weise
geschehen und erfolgt meist durch eine Kombination mehrerer
Formen:
- Bewirtschaftung verfügbaren Landes,
- Lohnarbeit bei anderen Landwirten,
- nichtlandwirtschaftliche Erwerbstätigkeit,
- gewerbliche Tätigkeit,
- Ersparnis von Ausgaben durch Fertigung von Gütern
und Diensten
innerhalb der Hausgemeinschaft oder auf Gegenseitigkeit
durch Nachbarn.
Die Kombination kann innerhalb einer Person erfolgen oder
auch zwischen den Generationen, und sie kann im Lebenslauf
wechseln.
Dabei zeigt sich, daß Haushalte mit noch ausreichender
Landausstattung, guter Marktlage und Bewässerung die
Verkleinerung der Betriebsfläche im Erbgang durch Intensivierung
auszugleichen
Ergebnisse deutsch-türkischer Universitätspartnerschaften
versuchen. Viele Landwirte haben hier hohe Anpassungsfähigkeit
bewiesen und große geistige Leistungen vollbracht.
Im Gebiet um Aydin berichteten Bauern eines Dorfes, daß
sie von 25 Jahren noch Getreide angebaut hätten. Die
Verkleinerung der Betriebe hätte dann von 15 Jahren den
Übergang zum Gemüseanbau erzwungen. Heute reiche
auch dies nicht mehr aus, und man geht zum Anbau von Schnittblumen
zum Export nach Europa über.
Ist die Landausstattung dagegen zu gering, oder Bodenqualität
und Bewässerung mangelhaft und die Marktlage schlecht,
dann bringt der Einsatz der Arbeitskraft außerhalb der
Landwirtschaft meist höhere Einkommen, selbst wenn es
einige Zeit und beachtliche Ausgaben erfordert, einen Arbeitsplatz
zu finden.
Dies hat nach einer Übergangszeit meist Konsequenzen
für den kleinen landwirtschaftlichen Betrieb. Mögliche
Verhaltensweisen sind
- Extensivierung zur Anpassung an die verringerte Arbeitskraft,
z.B. Abschaffung von Großvieh,
- Verpachtung von Teilen des Landes,
- Unterlassung von Investitionen als Vorbereitung auf eine
spätere
Aufgabe der Landwirtschaft,
- Umstellung des Anbausystems auf möglichst geringen
Arbeitsaufwand,
- Konzentration des Anbaus auf Früchte mit zeitlich
begrenzten
Arbeitsspitzen, zu denen die Verwandten gerufen werden.
Während dies Beispiele mit langsamem Ausscheiden aus
der Landwirtschaft sind, bei denen aber der Boden aus Sicherheitsgründen
oder als Alterssitz beibehalten wird, gibt es auch die umgekehrte
Verhaltensweise. Allerdings kommt dies seltener vor.
Hier wird das außerhalb der Landwirtschaft erzielte
Einkommen benützt, um Investionen in der Landwirtschaft
vorzunehmen, den Betrieb zu vergrößern oder auf
eine höhere Technologiestufe zu stellen.
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