3. Die Periode extern stimulierter Entwicklung, 1977 bis
heute
Während der letzten zehn Jahre hat Pakistan auf wirtschaftlichem
Gebiet bemerkenswerte Fortschritte zu verzeichnen, die allerdings
weniger auf Zunahme der wirtschaftlichen Leistungen im Inland
basieren als vielmehr überwiegend vom Ausland abhängen.
Hausgemacht sind die Rahmenbedingungen, nämlich eine
liberale, früh-kapitalistische Wirtschaftspolitik, bei
der der öffentliche Sektor nicht mehr so stark in den
Vordergrund tritt wie früher. Triebkräfte der wirtschaftlichen
Aktivitäten sind zwei außerhalb des Landes liegende
Entwicklungen, nämlich die Arbeiter-Nachfrage in den
Ölländern und der Afghanistankrieg. Beide sind sehr
unsicher und könnten auch kurzfristig zurückgehen,
was nachhaltige Folgen fürdie Wirtschaft des Landes haben
würde. Die Ölländer geben Millionen von Ausländern
Arbeit, und eine große Zahl kommt aus Pakistan. Die
Geldrücksendungen dieser Gastarbeiter — jährlich
über 2 Mrd. US-Dollar — haben nicht nur Devisenprobleme
des Landes beendet, sondern viel Kaufkraft ins Land, besonders
auch in die Landgebiete, gebracht.
Der Afghanistankrieg brachte die Belastung durch etwa drei
Millionen Flüchtlinge, aber auch Kaufkraft in Form der
Hilf sgelder internationaler Organisationen in Höhe von
zehn Rupien je Tag und Flüchtling. Zusätzlich ist
viel ausländisches Geld in den Aufbau des Militärs
geflossen. Unter den Flüchtlingen, die relative Freizügigkeit
in Pakistan genießen, befinden sich auch zahlreiche
Personen mit Fachkenntnissen, die der heimischen Wirtschaft
zugute kommen.
Der starke Anstieg an Kaufkraft hat besonders auch die Landgebiete
und dort in erster Linie die Unterschicht beeinflußt.
Landlose Familien waren nicht durch die Bewirtschaftungserfordernisse
gebunden und konnten ihre jungen Angehörigen zur Arbeitsleistung
in die Ölländer schicken. Sie hatten auch am wenigsten
Hemmnisse gegenüber einer Auf nähme von ungelernter
Arbeit zu überwinden.
Der starke Kaufkraftanstieg führte zu einer erheblichen
Nachfrage nach Konsumgütern und Bauleistungen und damit
zu einem Boom im ländlichen Handel und Gewerbe, welche
sich stark ausdehnten und viele neue Arbeitsplätze schufen.
Zusammen mit einer im Vergleich zu früher starken Ausdehnung
der mittelständischen Industrie, besonders auf dem Konsumgütersektor,
einem Bauboom im ganzen Land und einem Anstieg im Transportgewerbe
gab es nicht nur im Ausland, sondern auch im Inland beträchtliche
Alternativen für die Jugend auf dem Lande. Zwar ist es
nicht einfach, Arbeitsplätze zu finden, aber besonders
mit Hilfe von bereits nichtlandwirtschaftlich tätigen
Verwandten und Nachbarn finden junge Leute üblicherweise
nach einer Zeit des Suchens einen Arbeitsplatz. Da die Löhne
im Vergleich zu den Einkommen aus der traditionellen Kleinlandwirtschaft
attraktiver sind, junge Leute sich in der Stadt auch leichter
von den sozialen Zwängen des Dorfes befreien können,
verliert die junge Generation aus Kleinbauernfamilien zunehmend
ihr Interesse an der Landwirtschaft. Zumindest ist Fortsetzung
der durch Erbteilung immer kleiner werdenden Landwirtschaft
nicht mehr alleinige Lebensform, sondern eine unter mehreren
Alternativen. Diese Aufnahme nichtlandwirtschaftlicher Beschäftigung
durch Teile der kleinen Landbewirtschafter oder ihrer Angehörigen
wird auch von der älteren Generation gefördert,
sieht sie hier doch einen schnelleren Weg zur Besserung des
Lebensstandards, als es Anstiege in der landwirtschaftlichen
Produktion bringen können. Unter den Haushalten mit landwirtschaftlichen
Kleinbetrieben kommt es zur Ausbildung zahlreicher Formen
von Mehrfachbeschäftigungen:
- Bewirtschafter von Kleinbetrieben nehmen einen nichtlandwirtschaftlichen
Hauptberuf auf und arbeiten ständig oder saisonal als
Landarbeiter. Beide Tätigkeiten werden von der gleichen
Person ausgeübt, was immer erforderlich ist, wenn keine
Familienangehörigen im erwerbsfähigen Alter vorhanden
sind. Da die Bewirtschaftung des eigenen Kleinbetriebes
weitergeht, kann die zweite Tätigkeit nur lokal ausgeübt
werden, z.B. als Handwerker oder Ladenbesitzer, oder in
der Nähe von Städten.
- In anderen Haushalten nehmen einer oder mehrere Söhne
eine außerbetriebliche Erwerbstätigkeit auf,
und zwar lokal oder an einem entfernten Ort, permanent oder
wann immer sie Arbeit finden, und geben die Einkommen ganz
oder teilweise an die Familien ab. Manchmal wird auch die
Landbewirtschaftung nur während der zweiten Lebenshälfte
praktiziert. Bis etwa zum 45. Le bensjahr arbeitet man außerlandwirtschaftlich,
während der Vater das Land bewirtschaftet. Wenn dieser
zu alt wird, wechselt man die Tätigkeit, aberoft sind
die eigenen Kinder dann schon im erwerbsfähigen Alter.
Nicht selten bestehen in der zweiten Lebenshälfte auch
Ansprüche aus einer Pension wegen Tätigkeit in
der Armee oder bei der Polizei.
Diese Haushalts-Erwerbskombination macht es möglich,
auch an entfernt gelegenen Orten eine Beschäftigung
aufzunehmen und so das Haushaltseinkommen zu erhöhen.
Voraussetzung ist das Vorhandensein erwachsener Söhne
und genügend Familienzusammenhalt, so daß die
Söhne ihr Einkommen zumindest teilweise abgeben. In
der jetzigen ersten Generation außerlandwirtschaftlicher
Tätigkeit ist dies meist noch der Fall.
- Andere Kernfamilien behalten auch nach dauerhafter Abwanderung
enge soziale und wirtschaftliche Beziehungen zu anderen
Gliedern der erweiterten Familie bei. In der Stadt lebende
Zweige beziehen z.B. einen Teil ihrer Grundnahrungsmittel
als Unterstützung oder aus sentimentalen Gründen
vom elterlichen Betrieb. Außerdem bedeutet das Recht
auf Rückkehr eine wichtige Sicherung für den Fall
des Verlustes des Arbeitsplatzes. Umgekehrt gibt es Gegenleistungen
in Form von Geldzahlungen und Erntehilfe. Die Geldzahlungen
müssen nicht regelmäßig sein, sondern können
auch bei konkretem Bedarf für Investitionen erfolgen.
Die Auswirkungen dieser Formen von Mehrfachbeschäftigungen
auf die Landbewirtschaftung sind sehr unterschiedlich und
von der persönlichen Einstellung des einzelnen abhängig.
Manchmal werden die nichtlandwirtschaftlichen Einkünfte
investiert und zur Modernisierung des kleinen Betriebes verwandt.
Durch Zupacht wird dieser dann aufgestockt. In anderen Fällen
geht das Interesse an der Landbewirtschaftung zurück;
man beschränkt sich auf extensive Subsistenzproduktion
und genießt das ruhige, billige Wohnen fern der Stadt.
Aus Dörfern mit vielen Gastarbeitern sowie schlechten
Böden und Bewässerungsverhältnissen wird berichtet,
daß Felder gar nicht mehr bestellt werden.
Nachdem Abwanderung aus der Landwirtschaft so häufig
geworden ist, haben sich auch die Normen in der Gesellschaft
gewandelt. Kastenzugehörigkeit ist heute kein Hindernis
für eine Abwanderung vom Lande, beeinflußt höchstens
noch die Art der ausgewählten Berufe. Da die Verflechtung
von landwirtschaftlicher Tätigkeit mit nichtlandwirtschaftlichem
Erwerb gerade bei Haushalten mit kleinen Betrieben zu merklichen
Verbesserungen des Lebensstandards geführt hat, diese
andererseits nur bei Vorhandensein von möglichst mehreren
Söhnen durchführbar ist, besteht auch eine Wirkung
auf das generative Verhalten. Es ist wirtschaftlich interessant,
viele Kinder zu haben, denn in der ersten Generation mit nichtlandwirtschaftlicher
Erwerbstätigkeit sind mehrere Söhne ein schneller
Weg zur wirtschaftlichen Entwicklung.
Die Erfahrungen vieler junger Kleinbauernsöhne haben
zu einer vollkommen veränderten Einstellung zur Landwirtschaft
geführt. War es den Vätergenerationen noch vorbestimmt,
den elterlichen Betrieb zu übernehmen, so ist für
die heutige Jugend die Landwirtschaft eine unter mehreren
Möglichkeiten. Die Forderung der Jugend ist nicht mehr
gleicher Landbesitz oder Land für alle (wie es Agrarreformen
anstreben), sondern in erster Linie sind gleiche Einkommenschancen
gefragt, und zwar wo immer sie sich ergeben (auf dem Lande,
in der Stadt, im Ausland). Mit diesem Wechsel von der Forderung
nach gleichem Zugang zu Land zur Forderung nach gleichen Einkommmenschancen
ist die Agrarfrage von ei ner Angelegenheit des Agrarsektors
zu einer Frage der Gesamtgesellschaft geworden und nur in
diesem Rahmen zu lösen.
Änderungen der Mensch-Boden-Beziehungen sind auch bei
größeren Betrieben festzustellen. Einerseits kommt
es zu einer innerlandwirtschaftlichen Differenzierung: Während
ein Teil der Land-bewirtschafter moderne marktintegrierte
kommerzielle Landwirtschaft betreibt, bleiben andere weiterhin
bei traditioneller Bewirtschaftung durch Teilpächter
und befriedigen durch strikte Abschöpfung ihre Einkommensansprüche.
Andererseits finden es kapitalkräftige Nicht-Landwirte
interessant, in der Landwirtschaft zu investieren, und besonders
Spezialbetriebe wie Milchbetriebe, Rindermastbetriebe, Hähnchenmästereien
u.a. einzurichten. Hierbei spielen Spekulationen, Steuervermeidung
und Ausnutzung von Subventionen eine große Rolle.
Als Ergebnis all dieser Entwicklungen dürften sich um
1980 die ca. 4 Millionen landwirtschaftlicher Betriebe Pakistans
wie folgt differenziert haben:
- Großbetriebe (Landlords) über 60 ha, die sehr
unterschiedlich bewirtschaftet werden ca. 13.500 = 0,3 %
- Mittelbetriebe zwischen 10 und 60 ha, meist intensiv bewirtschaftet
ca. 300.000 = ca. 7,3%
- Kleinbetriebe von 3 — 10 ha mit unterschiedlicher
Bewirtschaftungsqualität und unterschiedlichen Zukunftsaussichten
ca. 1.100.000 = 27,0%
- Marginalbetriebe unter 3 ha, die nur in Kombination mit
anderen Einkünften eine ausreichende Existenz gewähren
ca. 1.600.000 = ca. 39,5 %
- Pächterbetriebe ttfrter 5 ha, meist gut bewirtschaftet
ca. 240.000 = ca. 5,9 %
- Pächter unter 5 ha, meist im Teilbau und oft traditionell
bewirtschaftet ca. 810.000 = ca. 20,0 %
Damit hat sich die Agrarproduktion sehr unterschiedlich
entwickelt. Ein Teil setzt die Lebensform fort und wendet
wenig neue Bewirtschaftungsmethoden an. Viele dieser Betriebe
werden in Zukunft aufgegeben werden, da die junge Generation
nur noch ein Teilinteresse an der Fortsetzung der Landbewirtschaftung
hat. Die Alten werden noch bis an ihr Lebensende auf dem Lande
wohnen bleiben und den kleinen Betrieb als Alterssitz nutzen.
Bei günstiger Lage mag das Land auch in der nächsten
Generation für gewerbliche Zwecke genutzt werden.
Ein anderer Teil ist zu moderner intensiver Landbewirtschaftung
übergegangen, wobei bemerkenswerterweise bäuerliche
Verhaltensweisen stark zurückgehen und die Produktionsweise
sich industriellen Formen annähert. Dieser Teil ist durch
Einsatz von Betriebsmitteln und oft auch durch Absatzder Erzeugnisse
an Verarbeitungsbetriebe voll mit vor- und nachgelagerten
Wirtschaftszweigen verflochten. Er verwendet die Dienstleistungen
etwa des Kredit- und Transportgewerbes und ist auf Gedeih
und Verderb integrierter Bestandteil der Gesamtwirtschaft.
Die Zahl der Traktoren hat sich beispielsweise auf über
200.000 erhöht.
Die absolute Produktionshöhe wird stark vom Ausmaß
staatlicher Stützung beinflußt. Der Rückgang
der bäuerlichen Einstellung mit Betonung auf der Nachhaltigkeit
der Erträge zugunsten schneller Gewinne bewirkt, daß
Ersatzinvestitionen, z.B. in Rohrbrunnen, aber auch Maßnahmen
zur Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit, nicht ausreichend getätigt
werden. Obwohl zur Zeit die Produktion an Getreide den Bedarf
deckt, bestehen daher für die Zukunft bei der starken
Bevölkerungsvermehrung Unsicherheiten. Dabei wirkt mit,
daß in erheblichem Umfang Ackerland für nichtlandwirtschaftliche
Zwecke genutzt wird, wie z.B. als Hausgrundstücke, für
Gewerbebetriebe, Straßen usw., und zwar in Ermangelung
einer Landnutzungsplanung leider oft ausgerechnet das beste
Ackerland.
Die Tatsache, daß der Anstieg der nichtlandwirtschaftlichen
Einkommen auf dem Lande höher ist als der vom landwirtschaftlichen
Einkommen, wird eine weitere Abwanderung, besonders aus Kleinbetrieben
und Gebieten mit geringer Ertragskraft, bewirken. Die Teilung
der Betriebe im Erbgang wird sich fortsetzen. Dies bedeutet,
daß die starke Urbanisierung des Landes weitergehen
wird.
Die Verflechtung der Landwirtschaft mit der übrigen
Wirtschaft, das Streben nach vergleichbarem Einkommen bei
der Jugend und die Bereitschaft zur Abwanderung haben die
Stellung der Landwirtschaft in der Gesamtwirtschaft und Gesellschaft
stark verändert. Drehte sich früher alles um die
Landwirtschaft, so ist sie jetzt zum integrierten und abhängigen
Teil der Wirtschaft geworden. Sie ist weniger Zugpferd der
wirtschaftlichen Entwicklung als zunehmend gestützter
Teil. Da bei der starken Abwanderung die Landwirtschaft ein
schrumpfendes Gewerbe ist (zur Zeit sind noch etwa 50% der
Erwerbspersonen in der Landwirtschaft tätig), gerät
sie bald in die Situation einer Minorität. In dieser
Situation erweist es sich als großer Mangel, daß
es keine Institution gibt, die als starke Interessenvertretung
die Landwirtschaft gegenüber der Regierung und gegenüber
anderen Sektoren vertritt.
Die Aufgaben der Landwirtschaft in der Gesellschaft haben
sich wiederum geändert und ausgeweitet. Sie umfassen
weiterhin die Bereitstellung von Nahrung und Rohstoffen, zunehmend
höherer Qualität. Dazu muß sie einen Marktbeitrag
leisten. Um ein Ver-gleichseinkommen zu erzielen, ist eine
Steigerung der Arbeitsproduktivität und eine Betriebsvergrößerung
erforderlich sowie eine kontinuierliche Freisetzung von Arbeitskräften.
Hierbei bestehen noch Friktionen. Daneben kommt der Schonung
der Ressourcen und der Erhaltung der Kulturlandschaft zunehemde
Bedeutung zu.
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