Standort und Zukunftsaufgaben agrarsoziologischer Entwicklungsländerforschung

Teil l: Makrosoziologische Aspekte

Professor Dr. Frithjof Kuhnen
Institut für Rurale Entwicklung der Universität,
Hohe Linde 13, 3400 Göttingen.

 

1. Theoretische Einführung


CONSTANDSE und HOFSTEE (1) haben Soziologie einmal definiert als "Wissenschaft, die sich mit der Struktur und dem Wandel sozialer Gruppen in Beziehung zu ihren Mitgliedern und zu anderen Gruppen befaßt".

Menschen sind soziale Wesen, d. h. sie interagieren miteinander, und zwar bei vergleichbaren Situationen in typischer, regelmäßiger Weise. Die Interaktionen der Menschen bilden eine mehr oder weniger dauerhafte Struktur, und aus diesen charakteristischen Gegenseitigkeitsbeziehungen ergeben sich verschiedene soziale Gruppen. Da einzelne Menschen vielen verschiedenen Gruppen angehören können, stehen auch die Gruppen in Beziehung und überlappen sich, woraus sich eine komplizierte Struktur ergibt, die wir Gesellschaft nennen.

Gesellschaft ist also ein System, dessen Elemente aus Handlungseinheiten (Individuen, Gruppen) bestehen. Diese sind durch ein "Netz" von wirtschaftlichen und sozialen Interaktionen (Rollen und Positionen) so miteinander verbunden, daß sich das System in einer gegebenen Umwelt aufrechtzuerhalten vermag.
Dort wird der geographische Rahmen, in dem die "organisierte Gesamtheit von Menschen, die in einem gemeinsamen Gebiet in Gruppen zusammenleben" (FICHTER (3)), mit angegeben. Ländliche Gesellschaft kennzeichnet dann die im ländlichen Raum zusammenlebenden Menschen und Gruppen, die auch durch bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen gekennzeichnet sind.

Unter Struktur der Gesellschaft ist die Antwort auf die Frage "Wie ist die Gesellschaft geordnet?" zu verstehen. Es geht also um den Aufbauaspekt, die Art, wie die Menschen miteinander als soziale Gruppen verbunden sind. Hier sind Art und Zahl zugelassener Handlungen, Werte, Normen und Rollen im sozialen System von Bedeutung. Die jeweiligen Strukturen bilden sich heraus, weil durch sie bestimmte Leistungen im Hinblick auf bestimmte Ziele erbracht werden können. Damit ist die Frage nach den Funktionen gestellt.

Unter Funktionen der Gesellschaft ist die Antwort auf die Frage "Was tut die Gesellschaft?" zusammengefaßt. Hier geht es um die vom System erbrachten funktionalen Leistungen, damit das System mit seinen gegebenen Strukturen erhalten bleibt.

Neben einigen allgemeinen Leistungen der Gesellschaft (räumliches und zeitliches Zusammenbringen, Bereitstellung der Sprache, Entwicklung von Verhaltensmustern und Zuweisung von relativ dauerhaften Positionen für die Individuen) sind eine Reihe von spezifischen Leistungen von großer Bedeutung, weil sie grundlegende soziale Bedürfnisse der Menschen befriedigen. Sie drücken sich jeweils durch Institutionen aus. Hier sind zu nennen:

  • Regelung der Erneuerung des Mitgliederbestandes durch Ehe,
    Familie und Verwandtschaft,
  • Sozialisation der Mitglieder durch ein System formeller und
    informeller Erziehung und Bildung,
  • Produktion und Verteilung der lebensnotwendigen materiellen
    Güter und Dienstleistungen, z. B. durch Markt,
  • Sicherheit und Ordnung durch politisch-administrative Ein
    richtungen und Möglichkeiten der Mitwirkung,
  • Befriedigung religiöser Bedürfnisse und des Wunsches nach
    Entspannung und Erholung durch entsprechende Gruppen und
    Einrichtungen.

Wegen ihrer grundlegenden Art werden diese Leistungen in allen Gesellschaften erbracht, was nicht hindert, daß die Bedeutung im Einzelfall und zu bestimmten Zeiten unterschiedlich ausgeprägt sein kann.

Für die ländliche Gesellschaft kommen noch eine Reihe von spezifischen Funktionen hinzu. Grundlegend ist die Bereitstellung von Nahrung und manchen Rohstoffen. Darüber hinaus leistet die ländliche Gesellschaft einen Marktbeitrag, indem sie Produktionsmittel, Konsumgüter und Dienstleistungen von anderen Teilen der Gesellschaft abnimmt und dort so Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten schafft. Während die Funktion der Devisenbeschaffung durch Agrarexporte und der Kapitalbildung für den Wirtschaftsaufbau nur für bestimmte Gesellschaften von großer Bedeutung ist, wird uns die wichtige Funktion der Gestaltung und Erhaltung der Kulturlandschaft heute immer deutlicher.

Eine Gesellschaft ist nun keineswegs statisch. Vielmehr ergeben sich Veränderungen in Struktur und Funktion einer Gesellschaft, die wir sozialen Wandel nennen. Er wird ausgelöst durch Umweltveränderungen und Bevölkerungsdruck, durch Konflikte, Erfindungen in der eigenen Kultur und Diffusionen aus fremden Kulturen.

Nachdem die Begriffe Gesellschaft sowie Struktur und Funktion von Gesellschaften verdeutlicht worden sind, geht es nun darum, die Aufgaben der Soziologie und hier der agrarsoziologischen Entwicklungsländerforschung in der Dritten Welt zu definieren. Nach TRAPPE (6) soll die soziologische Entwicklungsländerforschung soziologische Theorien, Fragestellungen und Forschungsmethoden anwenden zur Analyse der vielfältigen Probleme in der Dritten Welt. Dabei sind zu nennen:

  • Die Analyse der Ausgangslage, also die Ermittlung der genauen
    Fakten und der Verhältnisse in ländlichen Gebieten,
  • die Analyse, beratende Stimulierung und Evaluierung von an
    die Ausgangslage und die wirtschaftliche Entwicklung ange
    paßten Prozessen des sozialen Wandels,
  • Fehlentwicklungen möglichst zu prognostizieren, sonst aber
    zu eruieren und Abhilfemöglichkeiten aufzuzeigen.