2.7 Stadt-Land Verflechtungen
Fortschreitender Entwicklungsprozeß und Wanderungsbewegungen
bewirken eine immer stärker werdende Verflechtung
von Landwirtschaft mit den übrigen Wirtschaftsbereichen,
aber auch von Stadt und Land. Entlang der
Verkehrswege entstehen auch in den ländlichen Gebieten
Werkstätten und Läden, und städtische Arbeiter
wohnen in stadtnahen Dörfern, um in den Genuß billiger
Wohnungen, vielleicht auch angenehmerer Lebensbedingungen
zu gelangen. Dieser Prozeß der Urbanisierung hat ja
in der deutschen Agrarsoziologie große Beachtung gefunden,
harrt jedoch bezüglich der Entwicklungsländer weitgehend
noch der Bearbeitung. Dabei kommt dem informellen Sektor in
seiner Vielschichtigkeit wegen seiner Beschäftigungswirkung,
seiner Fähigkeit, Existenzen zu schaffen und menschliche
Fähigkeiten zu fördern, aber auch wegen seiner Rückwirkungen
auf die Agrar-entwicklung, große Bedeutung zu.
Gleiches gilt für die sich entwickelnde ländliche
Industrie, aber auch für die Anpassungsvorgänge
von ländlichen Arbeitskräften an Industriearbeit.
Je weiter der Verflechtungsprozeß und die allgemeinen
Entwicklungsprozesse fortschreiten, in desto stärkerem
Maße ändern sich die Rolle von Land und Landwirtschaft
in der Gesamtgesellschaft, eine Frage, die besonders auch
im internationalen Vergleich interessante Forschungsaspekte
aufwirft. Das Problem des "urban bias" mit seiner
Auswirkung auf den Entwicklungsprozeß ist nur ein Beispiel
dafür, wie wichtig diese Frage ist und welcher Forschungsbedarf
noch besteht.
Schließlich sei noch angedeutet, daß die agrarsoziologische
Entwicklungsländerforschung sich auch der internationalen
Dimensionen anzunehmen hat. Die soziale Realität
findet sich zunehmend ja nicht mehr nur innerhalb von Gesellschaften,
die zugleich Staatsnationen sind. Multinationale Gesellschaften
beeinflussen Leben und Arbeit von weitaus mehr Menschen als
viele Regierungen. Diese Machtfülle bewirkt Einfluß
auf Regierungen und Unabhängigkeit von diesen. Es ist
üblich geworden, die Multis und ihre Politik zu verdammen;
tatsächlich ist ja am Beispiel einiger Bananengesellschaften
überdeutlich geworden, wozu wirtschaftliche Macht und
Einfluß führen können. Andererseits wären
manche weltweiten Versorgungsprobleme ohne diese Wirtschaftseinheiten
wohl nur schlechter zu lösen als mit ihnen. Agrarsoziologische
Zukunftsaufgabe ist es, die Bedingungen und Wirkungen derartiger
Kräfte, ihre Entscheidungsfindung und die Möglichkeiten
ihrer Kontrolle zu analysieren, zumindest, soweit sie den
Agrarbereich betreffen.
Zu den internationalen Aspekten ist auch die Wirkung der
industriegesellschaftlichen Leitbilder im
Agrarbereich auf die Länder der Dritten Welt zu zählen.
Sind unsere Produktionssysteme, die uns ja selbst fraglich
erscheinen, Modell für fremde Kulturen? Gelingt es mit
unseren Planungserfahrungen, mit der uns geläufigen Konzentration
auf wirtschaftliche Sektoren nicht nur nationale, sondern
auch soziale Entwicklungsbedürfnisse zu befriedigen?
Mehr verallgemeinert: Welches ist der richtige Weg, die richtige
Strategie zur Entwicklung der Agrargesellschaften in der Dritten
Welt? Die Erfahrungen der letzten 25 Jahre rufen auf zu Bescheidenheit,
ja Demut, aber gleichzeitig auch zu intensiver agrarsoziologischer
Arbeit.
|