1.a) Ländliche Unterbeschäftigung
Im weitesten Sinne des Wortes ist Unterbeschäftigung
synonym mit unzureichender Ausnutzung der Arbeitskraft. In
der internationalen Literatur hat sich durchgesetzt, zwischen
sichtbarer und unsichtbarer Unterbeschäftigung zu unterscheiden.
Sichtbare Unterbeschäftigung ist das Ergebnis eines
unzureichenden Volumens an Beschäftigungsmöglichkeiten.
Die betroffenen Personen arbeiten unfreiwillig kürzer
als normal.
Die wichtigste Form der sichtbaren Unterbeschäftigung
in ländlichen Gebieten ist die saisonale Arbeitslosigkeit.
Sie ist das Ergebnis der zeitlichen Ine-lastizität in
der Agrarproduktion, bedingt durch die Abhängigkeit von
natürlichen Gegebenheiten. Dementsprechend ist sie typisch
für die Landwirtschaft in aller Welt, auch in Gebieten
mit hoher Produktivität in der Agrarwirtschaft. Der Umfang
der saisonalen Arbeitslosigkeit hängt ab von der Größe
und Zusammensetzung des Arbeitskräftepotentials, dem
Anbausystem und der Technisierungsstufe. Ihre Bedeutung und
Auswirkung ist in erster Linie eine Funktion des gegebenen
Lebensniveaus. Während einem wohlhabenden Landwirt solche
Arbeitstäler als Ausgleich vorhergehender starker Anstrengungen
willkommen sind und Erholung und Urlaub ermöglichen,
hindern sie arme Landbewohner daran, durch Mehrarbeit ihren
Lebensstandard zu verbessern.
Im tropischen Afrika ist das Ausmaß der saisonalen
Arbeitslosigkeit am höchsten in den Savannen und semi-ariden
Gebieten. Der Arbeitsbedarf der Hauptfrüchte ist hier
teils auf 120 Tage beschränkt. Klimatische Gründe
hindern vielfach daran, durch Änderung des Anbausystems
zu einer gleichmäßigen Verteilung im Arbeitsbedarf
zu kommen. Konzentration auf nur wenige oder gar auf nur eine
einzige Frucht bewirken ähnliche Erscheinungen in anderen
Gebieten, besonders solchen mit kommerzieller Landwirtschaft.
Die Integration in die Marktwirtschaft betrifft ja oft nur
eine oder wenige Früchte, die wegen ihrer Einträglichkeit
von großer Bedeutung sind, das Ausmaß der saisonalen
Arbeitslosigkeit nicht selten aber erhöhen.
Für praktische Zwecke ist es nützlich, zwischen
zwei verschiedenen Formen von saisonaler Arbeitslosigkeit
zu unterscheiden: Während der länger andauernden
toten Saison besteht über längere Zeit kein Arbeitsbedarf,
so daß die Arbeitskräfte sogar an anderen Orten
eine Arbeit aufnehmen könnten. Die tote Saison wird in
erster Linie durch die klimatischen Verhältnisse bedingt
(andauernde Regenfälle, absolute Trockenheit). Ihre Dauer
hängt vom Klima und vom Anbausystem ab, ist aber in der
Regel im voraus bekannt. Davon zu unterscheiden ist die sporadische
saisonale Arbeitslosigkeit, die des öfteren einmal im
Laufe des Jahres auftritt. Es handelt sich in erster Linie
um kurze Wartezeiten, z. B. auf Regen, um das Pflügen
möglich zu machen, auf das Auflaufen der Saat, um eine
Unkrautbekämpfung zu ermöglichen usw. Der Zeitpunkt
des Auftretens ist im voraus ungewiß, ebenso wie die
Dauer bis zum Wiedereinsetzen der Arbeitsmöglichkeit.
Dementsprechend sind die Möglichkeiten, von den freien
Arbeitskapazitäten Gebrauch zu machen, begrenzt.
Einen gewissen Ausgleich bot in der Vergangenheit die eigene
Herstellung und Reparatur von Geräten für Haus-
und Landwirtschaft sowie die Verarbeitung der Erzeugnisse.
Viele dieser Arbeiten ließen sich während der Zeit
erledigen, in der eine landwirtschaftliche Tätigkeit
unmöglich war. Im Zuge der fortschreitenden Arbeitsteilung
werden jedoch Güter, die früher im Haushalt hergestellt
oder verarbeitet wurden, auf dem Markt gekauft oder von Spezialisten
aufbereitet. Damit ist die Möglichkeit zur Nutzung freier
Arbeitskapazitäten zur Erhöhung des Lebensstandards
verringert, vielfach ohne daß gleichzeitig an anderer
Stelle vermehrte Arbeitsmöglichkeiten entstanden wären.
Während sichtbare Unterbeschäftigung das Ergebnis
quantitativer Mängel im Arbeitsangebot ist, führt
ein qualitativ unangemessenes Arbeitsangebot zu unsichtbarer
Unterbeschäftigung. Die Arbeitszeit ist nicht geringer
als normal, aber die Beschäftigung ist doch unzureichend,
weil entweder die Arbeit eine volle Ausnutzung der Kenntnisse
und Kapazität nicht erlaubt und das Einkommen entsprechend
unnormal niedrig ist (verschleierte Unterbeschäftigung),
oder die Beschäftigung findet in einer Wirtschaftseinheit
mit unnormal niedriger Produktivität statt (potentielle
Unterbeschäftigung).
Verschleierte Unterbeschäftigung ist eine charakteristische
Erscheinung der meisten Entwicklungsländer. Als Folge
der Disproportionalität der Produktionsfaktoren ist besonders
in übervölkerten Ländern die noch weitgehend
traditionelle Wirtschaft nicht in der Lage, der wachsenden
Zahl der Arbeitskräfte produktive Beschäftigung
zu geben. Wegen fehlender nichtlandwirtschaftlicher Beschäftigungsmöglichkeiten
werden die zusätzlichen Arbeitskräfte in den landwirtschaftlichen
Sektor gedrängt und arbeiten dort mit immer geringer
werdender Produktivität. Wenn die Landwirtschaft mit
Lohnarbeitskräften betrieben wird und deshalb keine zusätzlichen
Arbeitskräfte aufnimmt, wird der Überschuß
gewöhnlich in den Dienstleistungssektor gepreßt.
Normalerweise macht jedoch die Familie als Arbeits- und Lebenseinheit
es möglich, den Überschuß in der Landwirtschaft
zu absorbieren. Die Familienmitglieder teilen sich in die
verfügbare Arbeit, und der Ertrag dieser Arbeit bildet
eine Art Familienpool, aus dem die Bedürfnisse aller
Familienangehörigen gedeckt werden. Unter derartigen
institutionellen Gegebenheiten ist jeder beschäftigt
in dem Sinne, daß seine Zeit verbraucht ist und niemand
aktiv auf dem Arbeitsmarkt nach Arbeit nachfragt.
Obwohl das tropische Afrika nicht als typisch übervölkert
bezeichnet werden kann, ist verschleierte Unterbeschäftigung
verbreitet. Die Verteilung der Bevölkerung ist sehr ungleich.
Natürliche Faktoren sowie wirtschaftliche und historische
Entwicklung haben starke Bevölkerungskonzentrationen
bestimmter Gebiete bewirkt, während andere Regionen nahezu
unbesiedelt sind. Ebenso ungleich wie die Bevölkerungsverteilung
ist die Verteilung von Land. Teilweise sind große Landflächen
in der Hand kleiner Bevölkerungsgruppen konzentriert,
und die Bodenrechte stehen einem Ausgleich entgegen. Dadurch
sind die Beschäftigungsprobleme eng mit dem bestehenden
Agrarverfassungssystem verbunden. Auch wenn Land reichlich
verfügbar ist, verhindert oft das traditionelle System
der Bewirtschaftung — Wanderfeldbau mit Waldbrandwirtschaft
— die Ausnutzung der größer werdenden Arbeitskräftezahl.
Systematische Untersuchungen über Art, Ursachen und
Ausmaß der Unterbeschäftigung im tropischen Afrika
fehlen bisher völlig. Beobachtungen in den ländlichen
Gebieten zeigen jedoch unverkennbar die verbreitete Existenz
des Phänomens. Genauere Untersuchungen werden auch erst
beweisen müssen, ob die meist in Asien entwickelten Konzepte
und Definitionen der Unterbeschäftigung auch unverändert
auf Afrika anwendbar sind. Die lokalen Besonderheiten werden
sich mindestens bei der Schätzung des Umfanges erkennbar
machen. Sicherlich darf man zum Beispiel für eine Vollbeschäftigung
in ländlichen Gebieten zur Zeit nicht viel mehr als 200
Tage ansetzen. Unter den gegenwärtigen sozialökonomischen
Verhältnissen erfordern die Sitten und Gebräuche
ihre Berücksichtigung, die die Teilnahme an zahlreichen
Festen und anderen sozialen Begebenheiten verlangen. In der
Zukunft wird sich dies ändern, und in der Stadt hat es
sich teils schon geändert, aber vorläufig wäre
es unrealistisch, bei der Schätzung der Unterbeschäftigung
von Konzepten auszugehen, die in der westlichen Welt entwickelt
wurden.
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