5.1 Entstehungsprozesse
Analysen der Entstehungsprozesse (54; 25; 40) haben gezeigt,
daß für das Zustandekommen von Agrarreformen mehrere
Faktoren zusammentreffen müssen. Bestimmte Vorbedingungen
wie hohe Landkonzentration, ungleiche Einkommens- und Machtverteilung,
schlechte materielle Bedingungen für die Landbevölkerung
schaffen ein Potential für eine Agrarreform. Zu diesen
statischen Faktoren müssen noch solche mit dynamischer
Wirkung hinzukommen, wie etwa eine neue wirtschaftliche Organisation
oder politische Instabilität, damit es tatsächlich
zur Reform kommt.
Damit ist angedeutet, daß Agrarreform ein Zusammenwirken
von Landbevölkerung mit städtischer Mittelschicht,
z. B. Offizieren und Angehörigen der technischen Intelligenz,
die in Opposition zur traditionellen Herrschaft stehen, erfordert.
Gemeinsames Wirken dieser beiden Gesellschaftsschichten ermöglicht
revolutionäre Veränderungen. Die relative Seltenheit
von grundlegenden Agrarreformen kann damit erklärt werden,
daß die beiden wichtigsten Gesellschaftsgruppen, Bauern
und technische Intelligenz, zu ungleiche Interessen haben.
Bauern streben konkrete wirtschaftliche Ziele an: Günstige
Preise, Verbesserungen in den Bereichen der Pacht, Steuern
und der sonstigen materiellen Bedingungen. Sie wenden sich
gegen Grundherren und lokale Beamte, nicht gegen den Staat.
Zudem sind sie oft regional, stammesmäßig und religiös
gespalten, leben isoliert mit wenig Kommunikation in Dörfern
und haben daher wenig Chancen, ihre Interessen politisch auszudrücken.
Die Intelligenz hat dagegen abstrakte politische Ziele, wendet
sich gegen die alte Ordnung und strebt eine neue Gesellschaft
an. Agrarreform spielt in ihrer politischen Ideologie eine
symbolische Rolle. In dieser Situation kommt es unter zwei
Bedingungen zur Agrarreform: Während oder unmittelbar
nach Revolutionen müssen die neuen Machthaber ihre Herrschaft
legitimieren und suchen daher durch Änderung der agrarischen
Verhältnisse die Bauern auf ihre Seite zu bringen. Schon
bald pflegt sich das Tempo der Reform zu verringern, denn
die neuen Eliten wollen die Großgrundbesitzer ersetzen
und für sich eine privilegierte Stellung erringen, nicht
aber die Bauern auf eine gleiche Stufe bringen. Bei sozialistischen
Reformen ist dieser Aspekt weniger bedeutend, aber die Bauernwohlfahrt
pflegt ebenfalls an Bedeutung zu verlieren. Die Partei-Ideologie
steht hier im Vordergrund, und es kommt zu Umwälzungen
soziopolitischer Strukturen, bei denen Agrarreformen ein geeignetes
Instrument zur Kollektivierung bzw. Bildung von Staatsbetrieben
auf dem Land der Bauern sind.
Auf der anderen Seite versuchen unmittelbar vor einer drohenden
Revolution die alten Machthaber häufig, durch eine Agrarreform
die Spannung zu vermindern und besonders durch Beseitigung
des Unwillens der Agrarbevölkerung diese der Intelligenz
zu entfremden. Ist die Gefahr von Unruhen abgewendet, dann
pflegt auch das Reformtempo abzunehmen bzw. die Maßnahmen
werden verwässert. Nur starke Regierungen vermögen
Agrarreformen als wirtschaftspolitische Instrumente durchzusetzen.
Eine Sondersituation mit praktischer Bedeutung sind die Reformen,
bei denen Ausländer, legitimiert durch eine Besatzungsarmee,
eine Agrarreform initiiert haben.
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