8 Änderung der Agrarverfassung und gesellschaftliche
Entwicklung
Prozesse der Anpassung von Mensch, Boden und Technologie
an sich ändernde Faktorenkombinationen und -relationen,
also Prozesse, die heute Agrarreform genannt werden, finden
seit Jahrtausenden statt. Im Laufe der Zeit haben sich die
Schwerpunkte und Methoden geändert. In frühen Stadien
der Entwicklung bestanden die Unangepaßtheiten besonders
auf dem Gebiet der politischen und sozialen Ordnung. Kontrolle
über Land gewährte Existenz, Kontrolle über
viel Land brachte Macht. Landumverteilungen, also Bodenbesitzreformen,
reduzierten eine ungleiche Verteilung von Boden und bewirkten
Machtstrukturänderungen. Stärkere Verteilung von
Boden band mehr Arbeitskräfte an das Land, führte
zu Produktionssteigerungen und durchbrach damit die Stagnation
der Agrarwirtschaft.
Im Zuge der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung
ändern sich Rolle der Landwirtschaft und Aufgabe der
Agrarreformen. Bevölkerungsentwicklung, Probleme der
Nahrungsversorgung und beginnende Industrialisierung setzen
neue Rahmenbedingungen. Die Agrarreform muß Hindernisse
für eine Steigerung der Agrarproduktion und eine Entwicklung
des ländlichen Raumes beseitigen. Die Aufgaben werden
komplexer und technischer. Die Reform der Bodenbewirtschaftung
rückt in den Mittelpunkt, ohne daß die Fragen der
Verteilung des Bodeneigentums vernachlässigt werden dürfen.
Die Neuanpassungen müssen zu Produktionssteigerungen
durch höhere Arbeitsintensität führen und die
Vermarktung eines Überschusses für die Versorgung
der städtischen Bevölkerung sichern.
Mit fortschreitender Entwicklung sind Arbeitskräfte für
die Industrie freizusetzen und durch höhere Kapitalintensität
zu ersetzen. Verwendung von außerhalb der Landwirtschaft
erzeugten Produktionsmitteln mit spezifischen Anforderungen
an die Agrarstruktur spielen eine Rolle und bewirken zunehmende
Interdependenz zwischen Agrarwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen,
von der Auswirkungen auf die Agrarstruktur ausgehen. Diese
Änderung kann die Landwirtschaft nur mit Beratung, basierend
auf Forschung, verkraften.
In Ländern im Übergang zur Industriegesellschaft
wird die Landwirtschaft ein immer kleinerer Sektor der Gesamtwirtschaft.
Die Erfordernisse der Neuanpassung von Mensch, Boden und Technologie
werden wieder anders, aber nicht kleiner. Zwar sinkt der politische
Druck auf Umverteilung, da ja nur wenige in der Landwirtschaft
tätig sind. Zudem sind nunmehr Kleinbetriebe, wie sie
typische Agrarreformen schaffen, wenig attraktiv. Das Interesse
der Menschen verschiebt sich vom Bodenbesitz auf das Einkommen,
und der Betrieb ist ein Mittel unter anderen, dieses zu erzielen.
Arbeitskräfteknappheit und steigende Kapitalintensität
führen zu größeren Betriebseinheiten. Wenn
alternative Arbeitsplätze bestehen, ist Gleichheit der
Einkommen, nicht Gleichheit der Landausstattung, von Bedeutung.
Da man sich am industriellen Einkommen orientiert, ist nicht
Gleichheit der Einkommen in der Landwirtschaft, sondern Vergleichbarkeit
zwischen den Sektoren wichtig. Zudem gewinnen Land und Landwirtschaft
neue Rollen in der Gesellschaft. Die Anpassungsprozesse bedürfen
in diesem Stadium weniger massiver Eingriffe durch Agrarreformen
im alten Sinne als behutsamerer Anreize durch Steuern, Preise,
Subventionen u. ä. Die untrennbare Verflechtung von Agrarwirtschaft
und -gesellschaft mit dem übrigen Teil der Wirtschaft
und Gesellschaft läßt zudem Agrarreformen als isolierte
Maßnahmen erfolglos erscheinen. In reifen Industriegesellschaften
ist die Agrarfrage nur integriert in die gesamte Wirtschafts-
und Gesellschaftspolitik lösbar. Das Beispiel der chinesischen
Volkskommune läßt die Frage aufkommen, ob dies
nicht auch schon in früheren Stadien nötig und möglich
ist. Das Problem der Umgestaltung der institutionellen Bedingungen
der Agrarproduktion ist und bleibt ein ständiger Begleiter
der Menschheit.
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