1.1.4 Bodenordnungsmaßnahmen im unabhängigen Indien

Mit der Unabhängigkeit Indiens hörte die Steuereintreibung auf, dominierendes Prinzip bei der Regelung der Bodenordnung zu sein. Die Grundsteuer hat heute in Indien überhaupt nur noch eine marginale Bedeutung im Steuersystem.

Heute sind Ziele der Bodenordnungspolitik vielmehr die Sozialpflichtigkeit des Bodeneigentums zu fördern und die Agrarproduktion zu steigern. Beides ist bisher allerdings nur teilweise erreicht worden.

Bereits in den letzten 20 Jahren der Kolonialzeit haben die großen Parteien Indiens eine Reform der Bodenordnung gefordert, ja dieses Thema zum Zentrum ihres Kampfes um die Macht gemacht. Unmittelbar nach der Unabhängigkeit wurde diese Aufgabe dann

Umbruchphase als Zeitpunkt für Agrarreformen

auch in Angriff genommen, nicht nur weil das politische Klima günstig war, sondern dies diente den neuen Regierungen auch dazu, ihre Macht zu legitimieren. Nach der föderativen Verfassung wurden die Agrarreformgesetze von den einzelnen Bundesstaaten erlassen, und zwar mit besonderen Gesetzen für jede Teilmaßnahme und mit vielen Novellen. Dadurch besteht die Agrarreformgesetzgebung Indiens aus über 100 Gesetzen, und zwischen den Bundesstaaten bestehen Unterschiede, wenn auch eine einheitliche Linie zu erkennen ist.
Ablösung der Rechte aller funktionslosen Rentenbezieher

Ablösung der Rechte aller funktionslosen Rentenbezieher

Als erste Maßnahme wurden 1951 die ‘Intermediaries’, die mehr oder weniger funktionslosen Rentenbezieher zwischen Staat und Landbewirtschafter (Jagirdari, Zamindare etc.) ihrer Rechte enthoben. Ziel war nicht die Beseitigung von Großgrundbesitz, sondern der Renten. Viele waren durchaus legal, z.B. durch Kauf, Erbschaft oder in Anerkennung bedeutender Dienste in den Besitz gekommen. Außerdem waren manche ‘jagirs’ nur wenige acre groß und einzige Einkommensquelle ihrer Besitzer. Der Staat enteignete deshalb gegen eine hohe Entschädigung, die allerdings später durch Gesetze und Inflationsauswirkung verringert wurde.

Entschädigungsleistungen werden durch Inflation entwertet

Der Staat hatte jetzt die Verwaltung dieser Gebiete zu übernehmen und mußte erhebliche Investitionen in Schulen, Gesundheitseinrichtungen tätigen, um diese Gebiete auf das in Indien übliche Niveau zu bringen. Außerdem mußte er die Personalausgaben incl. Pensionen übernehmen. Da die ca. 20 Millionen betroffener Landbewirtschafter jetzt in direkte Steuerbeziehung zum Staat kamen, erhöhte sich allerdings die Steuereinnahme erheblich.

Den Enteigneten wurde das Recht eingeräumt, für eine Fläche bis zum Dreifachen eines durchschnittlichen Familienbetriebes ihre Pächter zu kündigen, um Selbstbewirtschaftung zu beginnen. Dies ließ die Zahl der geschützten Pächter stark zurückgehen. Bis Mitte der 50er Jahre war dieser Teil der Agrarreform abgeschlossen.
Fehlschlag der Versuche zur Besserung im Pachtwesen
Die zweite Stufe der Agrarreform hatte die Probleme im Pachtwesen zum Ziel. Die

Fehlschlag der Versuche zur Besserung im Pachtwesen

Versuche zur Regelung der Pachtverhältnisse erwiesen sich jedoch als Fehlschlag. Man versuchte, die Rechte der Pächter durch Einführung einer Mindestpachtdauer und durch Kündigungschutz, sofern nicht bestimmte Gründe vorlagen, zu bessern. Pächter sollten Entschädigungen für Investitionen erhalten und bekamen ein Ankaufsrecht für von ihnen bewirtschaftetes Land. Nach 12 Jahren Bewirtschaftung wurden die Pächter unkündbar. Die Pachtsumme wurde im Teilpachtsystem auf 1/3 bis 1/6 der Bruttoernte beschränkt.

Auf der anderen Seite wurde den Verpächtern als Ausgleich vor Anwendung der Gesetze ein Kündigungrecht eingeräumt, falls sie ihr Land in Selbstbewirtschaftung nehmen wollten. Dieser Begriff wurde nicht definiert und von den Verpächtern als ‘die Bewirtschaftung leiten’ ausgelegt. Viele Pächter wurden entlassen und als Landarbeiter oder Teilpächter wieder eingestellt. Teilbauverhältnisse wurden in den Gesetzen nicht als Pacht verstanden. Die Gesetze zur Besserung der Pachtverhältnisse haben so in der Praxis dazu geführt, daß viele Pächter ihre Rechte verloren haben.

Ein Fehlschlag war auch die beabsichtigte Prüfung der Pachtverträge. Die Administration war damit überfordert, jährlich die vielen Pachtverträge zu prüfen. Dazu kam, daß die Maßnahmen den Gegebenheiten auf dem Pachtmarkt zuwiderliefen, und viele Pächter dazu bereit waren, inoffiziell Zugeständnisse zu machen, um überhaupt Land verpachtet zu bekommen.

Enteignung von Landeigentümern über einer Obergrenze

Begrenzung von Landeigentum und Umverteilung folgen erst zögerlich, und anfangs waren die zulässigen Obergrenzen recht hoch, so daß nur eine kleine Zahl von Großgrundbesitzern betroffen war. Allerdings erleichterte dies die administrative Durchführung von Enteignung und Umverteilung. Im Laufe der Jahre wurden die Obergrenzen in Novellen immer mehr herabgesetzt, und heute gibt es kaum Großgrundeigentum in einer Hand, wohl aber in der Hand von Familien.

Die Wirkung der Gesetze wurde durch viele Ausnahmen im Gesetz begrenzt. So durften die Betroffenen vor Anwendung der Gesetze Land an Familienangehörige verteilen, was bei der hohen Kinderzahl in Indien manchmal eine Vermeidung der Enteignung bedeutete. In einem Staat durfte sogar für noch nicht geborene, aber noch erwartete Kinder Land reserviert werden. Landbewirtschaftungsgenossenschaften waren ausgenommen, und manche haben mit sieben Familienangehörigen eine Genossenschaft gegründet und so ihr Eigentum gerettet. Meist durften die Eigentümer selbst entscheiden, welche Flächen sie abgeben wollten, und entschieden sich für Friedhöfe, Ödland und andere unbrauchbare Flächen. So stand nur wenig Land zur Verteilung zur Verfügung, sieht man von Staatsland ab. Begünstigt wurden weniger Landlose, denen man auch Betriebsmittel hätte geben müssen, sondern das Land diente zur Aufstockung zu kleiner Betriebe.

Insgesamt kann man feststellen, daß das Paket von Agrarreformgesetzen gegen die großen Landlords und gegen die armen Pächter gewirkt hat, während die Mittelschicht

Die Agrarreform nutzte der Mittelschicht, während die Armen leer ausgingen

begünstigt wurde. Rentenbezieher wurden beseitigt, die großen Landlords enteignet, besonders solche, die ihr Land nicht selbst bewirtschafteten (‘absentees’) sondern sich auf das Einsammeln der Pacht beschränkten. Die alte feudale Oberschicht spielt heute kaum eine Rolle mehr.

Aber die Erwartungen der Unterschicht gingen nicht in Erfüllung. Landlose und Teilpächter waren von den Maßnahmen kaum betroffen, und viele Pächter haben durch den Übergang zur Selbstbewirtschaftung ihre Rechte verloren. Die ländliche Mittelschicht nahm zu, von oben durch Enteignete mit ihrem Restland, von unten durch wirtschaftliche Familienbetriebe, die ihre Fläche aufzustocken vermochten. Diese Mittelschicht hat nach Ablösung der Feudalherren auch die politisch führende Rolle in den Landgebieten übernommen und gelangte durch intensive Bewirtschaftung auch wirtschaftlich zu Wohlstand. Der dabei getätigte Übergang von den traditionellen zu vertragsmäßigen Arbeitsbeziehungen reduzierte die minimale Sicherung durch die früheren Gegenseitigungsbeziehungen, ein Wandel, der sich in Folge noch verstärken sollte.

Es kam in dieser Zeit in Indien auch zu einer intensiven Diskussion, ob das Ziel ‘etwas Land für jeden Landlosen’, wie es Gandhi und Vinoba Bhave gefordert hatten, eigentlich sinnvoll sei. Indien hat ja schon viele Millionen Kleinstbetriebe, die kaum wirtschaftlich zu bewirtschaften sind. Tatsächlich stellte man fest, daß viele mit einer kleinen Landfläche Begünstigte diese bald verpachtet haben und sich anderweitig eine Existenz suchten.

Problem der wirtschaftlich minimal erforderlichen Betriebsgröße

Mindestens ebenso hohe Auswirkungen auf die Bodenordnung brachten ohne spezielle Strukturmaßnahmen die neuen Technologien mit sich, die in der 2. Hälfte der 60er Jahre unter der Bezeichnung ‘Grüne Revolution’ schnelle Verbreitung fanden, allerdings nur in den Bewässerungsgebieten. Sie erforderten erhebliche Investitionen in Saatgut, Düngemittel, Bewässerungspumpen, und in der Folge von Traktoren mit Geräten und

Die ‘Grüne Revolution’ führte in Bewässerungsgebieten zwar zu hohen Ertragssteigerungen, aber auch zu Pächterkündigungen, Aufgaben von Kleinbetrieben und Landarbeiterentlassungen. Die Trockengebiete waren kaum betroffen.


Dreschmaschinen. Die erheblich höheren Erträge bei Weizen und Reis machten diese Investitionen lohnend. Durch Vorsprung in Information, Zuteilung des anfangs knappen Saatgutes, höherer Risikofähigkeit und Zugang zu Finanzierung waren die großen Betriebe eindeutig im Vorteil, besonders da die Kleinbetriebe anfangs wegen der schlechten Backqualität nur ungern die neuen Sorten verwandten. Auch durch Fehler bei der Anwendung der neuen Technologien hat mancher Kleinbewirtschafter keinen Ertrag von seinen Aufwendungen erhalten. Die Folge technologischer Neuerungen (Saatgut, Wasser, Chemikalien, Maschinen) machte immer wieder neue Innovationen erforderlich, was oft die Möglichkeiten von Kleinbetrieben überschritt, obwohl die neuen Technologien weitgehend teilbar sind. Nicht wenige Kleinbetriebe wurden aufgegeben und das Land an größere Grundbesitzer verpachtet. Gleichzeitig haben letztere in großem Umfang Pächtern gekündigt, als sie erkannten, daß unter den neuen Bedingungen mit intensiver Landbewirtschaftung viel Geld zu verdienen ist. Man ging zu zentraler Bewirtschaftung mit Maschinen über, was auch vielen Landarbeitern ihre Existenz kostete. Zwar stellten sich die wegen Pächterkündigungenen und Landarbeiterentlassungen erwarteten großen Probleme nicht ein.

Zahl der Pächter im Punjab

1955: 583.000
1969: 80.500 

Für die Einzelnen ergaben sich große Friktion, insgesamt erwies sich aber nach einer Übergangszeit, daß die massiven Ertragssteigerungen viele neue Arbeitsplätze entstehen ließen, besonders im Agrobusiness-Bereich. Hilfreich war dabei, daß die entlassenen Pächter ihre Zugtiere verkaufen bzw. gegen Milchkühe tauschen konnten und damit eine gewisse Absicherung hatten.
Von Bedeutung ist die Herausbildung einer Schicht von ‘Progressive Farmers’, kleinen Landlords und größeren Familienbetrieben im Bewässerungsgebiet, die die Anreize zu

Es kam zur Bildung einer Schicht von ‘Progressive Farmers’

hohen Einkommensmöglichkeiten durch Anwendung der neuen Technologien genutzt haben, zu Wohlstand gelangte und ihre wirtschaftliche Macht auch zu politischer Macht nutzen konnten. Sie eroberten viele Sitze in Distrikts- und Staatsparlamenten und verhinderten dort, daß wenigstens der durch Staatsaufwendungen für Bewässerung, Zuchtstationen usw. entstandene Einkommenszuwachs weg besteuert wurde.

Insgesamt ist festzustellen, daß die ‘Grüne Revolution’ erhebliche Ertragssteigerungen gebracht hat. In den betroffenen bewässerten Gebieten hat die Polarisierung zwischen wohlhabenden größeren Landwirten und in Armut lebenden Kleinbewirtschaftern und Landlosen zugenommen, wenn auch viele neue Arbeitsplätze entstanden sind. In den Trockengebieten hat sich kaum etwas verändert.

Die Ergebnisse der ‘Grünen Revolution’ und die heutige Situation können wie folgt gekennzeichnet werden: Im Bewässerungsgebiet hat sich eine neue wirtschaftliche und politische Führungsschicht für die Landgebiete herausgebildet, die ‘Progressive Farmers’. Diese haben eine neue Einstellung zu Boden und Landbewirtschaftung: Boden ist Betriebsmittel, und Landbewirtschaftung ist ein Geschäft. Dieser Einstellung entsprechen auf Kontrakt anstatt Sitte und Fürsorge beruhende Arbeitsbeziehungen. Damit ist die begrenzte und stark einseitig verschobene wechselseitige Abhängigkeit aller an der Landbewirtschaftung beteiligten Schichten beendet. Die Polarisierung hat zugenommen, was schon zu Konflikten geführt hat. Die Agrarproduktion ist gestiegen, aber das Produktionssystem ist anfälliger geworden durch die unwiderrufliche Verflechtung mit der übrigen Wirtschaft bei nicht gesicherten Bezugs- und Absatzwegen. Kleinbetriebe haben nur begrenzt an der Produktionssteigerung teil, Pächter wurden vielfach gekündigt und Landarbeiter entlassen.
In Trockengebieten hat sich vergleichsweise wenig getan. Die Produktionsverhältnisse sind unverändert rückständig, was bei der geringen Größe der meisten Betriebsflächen auch kaum änderbar erscheint. Die Lebenssituation ist schlecht, die meist als Teilpächter wirtschaftenden Menschen leben in Abhängigkeit von den Grundbesitzern. Der eher zunehmende Rückstand in der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Gebiete hat sowohl politische Konsequenzen als Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung, die unter der geringen Kaufkraft der Massen leidet.

 

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